Wolfgang Brinkschulte ist Vorstand im Forum Frohes Schaffen e.V. zur Zukunft der Arbeit
Spätestens mit der Entscheidung von Siemens, Homeoffice auch in Zukunft unternehmensweit zu nutzen, steht das Thema mobiles Arbeiten ganz oben auf der bundesdeutschen Agenda. Damit fördert der Konzern das mobile Arbeitsmodell nicht nur im eigenen Haus, sondern im ganzen Land.
Zwei bis drei Tage mobiles Arbeiten als weltweiter Standard. So schafft der Industriekonzern als eines der ersten großen Unternehmen dauerhaft angepasste Arbeitsmodelle. Über alle Bereiche, Produktion nicht ausgeschlossen. Weltweite Umfragen der Siemens-Mitarbeiter hätten den Wunsch nach mehr Flexibilität und individuellen Lösungen beim Arbeitsort bestätigt.
Mit dem Vorstandsbeschluss setzt Siemens konzernweit das um, was intern bereits teilweise, aber in vielen anderen Unternehmen seit Jahren Standard ist. Zuletzt ist Homeoffice durch die Corona-Krise zur effizienten Alternative geworden. Doch damit die erfolgreich funktioniert, benötigt es Rahmenbedingungen. Denn das „neue Arbeiten“ ist für die meisten Angestellten und Chefs noch immer gewöhnungsbedürftig.
Kulturwandel in Bewegung
Denn Homeoffice geht nicht von selbst, Homeoffice will geübt sein. Mobiles Arbeiten ist eine Führungsaufgabe, eine strategische Entscheidung von Unternehmensleitungen und immer abhängig von der jeweiligen Unternehmenskultur.
Plötzlich sind viele Unternehmen und Institutionen, auch öffentliche Verwaltungen, mit diesen neuen Herausforderungen konfrontiert. Disruptiver geht es kaum. Wie also die Mitarbeiter am heimischen Küchentisch steuern, wie mit ihnen kommunizieren, wie motivieren, Feedback einholen und Projekte organisieren? In den letzten Monaten ging viel in Unternehmen und Behörden.
Vorarbeit hat nicht nur die „New Work“-Bewegung geleistet, sondern auch die Start-ups und Tech-Unternehmen und die vielen Konferenzen zur Zukunft der Arbeit. Sie haben in den vergangenen Jahren Entwicklungen angestoßen und erfolgreich praktiziert, von denen die Mehrheit der Unternehmen heute profitieren kann. Ebenso haben Wissenschaftler, allen voran das Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, seit Jahren wertvolle Beiträge geliefert.
Auch Mittelständler haben mittlerweile mobiles Arbeiten und agile Methoden auf dem Schirm und profitieren davon. Allerdings muss man das auch wollen, Chefs müssen sich dem stellen, Geschäftsleitungen entscheiden.
Nachholbedarf beim Homeoffice
Doch noch im Sommer 2018 arbeiteten nach einer Erhebung von IDG research, zusammengetragen von Statista, nur 16,6 Prozent der Arbeitnehmer auch mal im Homeoffice, ausschließlich nur 3,8 Prozent. Knapp die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland arbeiteten gar nicht von zu Hause, 23,8 Prozent durften noch nie dort arbeiten.
Um die Ausbreitung des Coronavirus in Deutschland einzudämmen, haben seit März viele Unternehmen ihre Mitarbeiter ins Homeoffice geschickt. Vor allem Eltern nutzten diese Möglichkeit, um ihre Kinder betreuen zu können, seitdem Kitas und Schulen geschlossen wurden. Wie viele Arbeitnehmer in den letzten Wochen und derzeit tatsächlich zu Hause arbeiten, dazu ist die Datenlage noch unübersichtlich. Und langsam gehen mehr und mehr Menschen wieder in die Firma.
Laut einer Umfrage des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) unter Angestellten zu Beginn der Corona-Krise waren 75,4 Prozent grundsätzlich bereit, zu Hause zu arbeiten. 24,6 Prozent konnten sich das nicht vorstellen. 66,1 Prozent der Befragten erwarteten von ihrem Arbeitgeber eine adäquate Lösung in dieser Situation.
45,3 Prozent der befragten Angestellten dachten, dass ihr Arbeitgeber technisch dazu in der Lage sei, ihnen die Arbeit von zu Hause zu ermöglichen. 45,7 Prozent der Befragten sahen ihren Arbeitgeber noch nicht dazu bereit. Für die Umfrage wurden 1.001 Angestellte kleiner, mittlerer und großer Unternehmen in Deutschland vom 5. bis zum 8. März repräsentativ befragt.
Politik und Dialog
Auch wenn Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) immer wieder darauf hinwies, dass 90 Prozent ihrer Ministeriumsmitarbeiterinnen im Homeoffice waren, ist das sicher auch in Corona-Zeiten eine Ausnahme. Doch Giffey treibt seit Längerem digitale Arbeitsprozesse voran. Im Juni 2019 richtete sie dafür ein Innovationsbüro „Digitales Leben“ ein. Das Familienministerium und seine Leistungen und Unterstützungsangebote sollen dadurch digitaler werden. Damit dürfte sie in der bundesdeutschen Behördenlandschaft noch immer zu den Vorreitern zu gehören. Neben dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Das per se zuständig ist.
Jenes Ministerium hat schon 2015, noch unter der damaligen Ministerin Andrea Nahles (SPD), mit dem „Dialogprozess Arbeiten 4.0“ einen Rahmen für einen teils öffentlichen, teils fachlichen Dialog über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft initiiert, auch zu mobilem Arbeiten. Herausgekommen ist unter anderem die „Initiative neue Qualität der Arbeit“ (INQA).
Unter diesem Dach sollen Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft neue Ansätze einer modernen Arbeits- und Personalpolitik diskutieren. Gemeinsam wollen sie konkrete und praxisorientierte Lösungen entwickeln, die Unternehmen und Institutionen bei der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen unterstützen.
Firmen ohne Büro
Wo in Deutschland erst in der Krise Unternehmen und Institutionen kleine Schritte ins Neuland wagen, haben anderswo Firmen mobiles Arbeiten gleich zum Geschäftsmodell erklärt. Etwa das hierzulande noch immer weitgehend unbekannte US-Großunternehmen eXp Realty, das an der elektronischen Börse Nasdaq in den USA gelistet ist. Es hat sich zum Vorreiter der Maklerbranche entwickelt.
eXp Realty ist ein Immobilienmakler, der nach einem virtuellen Geschäftsmodell arbeitet. Es gibt keine Einzelhandelsbüros, in dem sich die Makler befinden, sondern sie arbeiten von zu Hause aus oder melden sich unterwegs an. Nach der sonst in der Branche schicken Firmenzentrale in bester Lage sucht man hier vergebens. Ausgerechnet ein Immobilienhändler verzichtet auf ein eigenes Bürogebäude. Dafür leistet sich die Firma eine aufwendige Basis im Internet.
Die Firmenzentrale liegt auf einer Insel inmitten eines Sees. Glitzernde Bürotürme, ein weitläufiger Campus, Fußball am Strand. Ein scheinbar luxuriöses Arbeitsumfeld, allerdings nur virtuell im Netz. Wer hier Mitglied im Team von rund 20.000 Mitarbeitern sein will, kreiert einen digitalen Avatar, setzt am eigenen Laptop ein Headset auf und setzt sich an seinen virtuellen Schreibtisch in der virtuellen Firmenzentrale. Von dort kommuniziert man mit den digitalen Alter Egos der weltweiten Kollegen, ohne dass sich die realen Menschen hinter den Avataren jemals persönlich begegnen müssen. Hier ist die Zukunft der Arbeitswelt nur einen Mausklick entfernt.
Doch die Arbeitswelt von morgen gibt es auch schon lange bei uns in Deutschland. In Leipzig zum Beispiel. Da hat sich seit vielen Jahren ein Unternehmen auf moderne Arbeitswelten spezialisiert. Mobiles Arbeiten statt Büro, flexible Arbeitszeiten statt Stechuhr, Team statt Hierarchie. Bei AVILOX arbeiten seit Gründung rund 25 Mitarbeiter virtuell, bundesweit per Videochat, Projekttools und Telefon. Mit Abständen, aber regelmäßig, trifft man sich in der Leipziger Zentrale. Die liegt in einem Coworking Space und ist mehr Treffpunkt als Büro.
Dafür kommen alle Kollegen einmal im Monat zu einem Team Camp zusammen. Das sei wichtig für die gemeinsame Arbeit, sagt die Geschäftsführerin Regina Köhler. Sonst ist sie mit ihren Kollegen viel auf Workshops und für Vorträge unterwegs und berät Unternehmen zu allen Fragen mobilen Arbeitens. Sowohl in ihrer eigenen Firma als auch bei ihren Kunden seien die Fragen der Organisation und der Art des Zusammenarbeitens besonders wichtig. So mache man sich gemeinsam Gedanken über Formen der Organisationsentwicklung. Flexibles Arbeiten würde nicht in eine Fachabteilung wegdelegiert, sondern das müsse interdisziplinär zwischen den Abteilungen in Unternehmen angegangen werden.
Wissenschaft mit Konzepten
Diese Art der Erfahrung deckt sich denn auch mit den Einschätzungen und Studien des wichtigsten deutschen Forschungsinstitutes auf diesem Gebiet, dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Das entwickelt gemeinsam mit Unternehmen, Institutionen und Einrichtungen der öffentlichen Hand Strategien, Geschäftsmodelle und Lösungen für die digitale Transformation.
Dazu gehören besonders ganzheitliche Konzepte für die Arbeits- und Organisationsgestaltung sowie für Unternehmens- und Führungskulturen. Josephine Hofmann, die Teamleiterin für Zusammenarbeit und Führung, forscht seit vielen Jahren an Führungskonzepten und flexiblen Arbeitsformen und hat Unternehmen auf dem Weg in die mobile Arbeit begleitet.
Fürs Homeoffice speziell in Corona-Zeiten, aber auch schon seit Jahren hat sie eine wichtige Formel parat: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation. Den entscheidenden Faktor nennt das Hofmann. Verantwortliche Führungskräfte sollten regelmäßig unter Nutzung aller verfügbaren Telemedien, Telkos, E-Mails, Chats oder Collaboration-Software, Kontakt zu Kollegen und Mitarbeitern halten. Sie sollten auch zu unkonventionellen Nutzungsformen ermutigen. Was bisher unmöglich schien, gehe nun manchmal doch. Das sei auch eine Lernchance.
Gerade Führungskräfte sollten unbedingt direkte, auch informelle Gespräche suchen. Das direkte Gespräch via Telefon oder Videokonferenz sei wichtiger, kommunikativer Bestandteil des Arbeitsalltags, auch als Zeichen von Wertschätzung und persönlicher Fürsorge.
Führung und Vertrauen
Sich als Geschäftsleitung regelmäßig „aus dem Orbit“ in Form von unternehmensweiten persönlichen Ansprachen zu melden, könnte nicht hoch genug geschätzt werden, besonders in Ausnahmesituationen. Geschäftsleitungen sollten gerade Führungskräfte darin bestärken, das notwendige Vertrauen in den Leistungswillen und die Selbstmanagementfähigkeiten aufzubringen, aber auch mit der nötigen Konzilianz zu reagieren, wenn nicht alles gleich gut erledigt werde.
Da sind Unternehmen gut dran, die sich schon seit Jahren auf den Weg zum „New Work“ begeben haben. Wo sich Vertrauen den Mitarbeitern gegenüber auch in den Organisationsstrukturen widerspiegelt: mehr Netzwerk, weniger Hierarchie. Wo klar ist, dass Mitarbeiter im Homeoffice ihre Aufgaben selbstständig und erfolgreich erledigen.
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass sich unsere Arbeitsweise radikal verändert hat, von einem Tag auf den anderen. Heute muss sie mehr mobil sein, multilokal, morgen ist sie wohl mehr auch virtuell. Sich technisch und kulturell darauf einzustellen, dürfte für Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine der Lehren und Herausforderungen sein, um nicht der Entwicklung hinterher zu hinken, sondern mit dem Wandel mitzuhalten.